International Harvey Keitel Library

Dieses Interview wurde ursprünglich bei der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht unter http://www.szonnet.de/feuilleton/kino/000512feu_keitel.html, inzwischen aber leider gelöscht. Wenn einer der Copyright-Inhaber etwas dagegen hat, daß ich den Text hier für Harvey Keitel´s Fans weiter zur Verfügung stelle, schreiben Sie mir bitte eine Email und ich lösche die Seite. Chris


SZ vom 12.05.2000 Feuilleton

Expedition ins eigene Ich

Harvey Keitel über die Schauspielerei und „Three Seasons“

Er ist ruhiger geworden, die nervöse Unruhe seiner frühen Jahre ist einer geheimnisumwitterten Gelassenheit gewichen: In „Three Seasons“ schafft es Harvey Keitel sogar, stundenlang nur auf einem Stuhl zu sitzen und das Leben auf der Straße zu beobachten. Auch im Gespräch in einem Berliner Hotelzimmer wirkt er abgeklärt, vielleicht auch ein wenig müde nach den Dreharbeiten von „Holy Smoke“, seinem zweiten Film mit Jane Campion. Sein Lächeln wirkt jungenhaft, es zeugt von Verlegenheit und hat doch männlichem Charme – das passt zu den Geschichten jener ebenso kämpferischen wie verzweifelten Charaktere, die er gespielt hat.

Mit Harvey Keitel sprach Anke Sterneborg.
 

SZ: Martin Scorcese, Ridley Scott, Paul Schrader, Quentin Tarantino, nun Tony Bui: Es scheint, als hätten Sie das richtige Gespür für Regieanfänger.

Harvey Keitel: Ja, da habe ich wirklich immer Glück gehabt!

Wirklich nur Glück?

Es ist nicht zu leugnen, dass ich mit diesem scheinbar höheren Risiko immer ganz gut gefahren bin, doch es fällt mir schwer, das zu analysieren. Es beginnt einfach damit, dass ich ein Drehbuch lese, und dass es darin etwas gibt, das mich fasziniert oder berührt, etwas, das mich weiter bringt, und mir hilft, das Leben und die menschliche Existenz besser zu verstehen als vorher.

Sie waren selbst ja nie in dort, trotzdem scheint Vietnam in fast all Ihren Rollen unterschwellig präsent zu sein, selbst dann wenn es nicht so konkret ausgesprochen wird wie in „Three Seasons“.

Ich wurde aus den Marines entlassen, bevor es nach Vietnam ging. Aber diese Erfahrung hat sich ins Bewusstsein einer ganzen Generation eingebrannt. Doch ist dieser Film anders, ich empfinde ihn im Grunde als Gedicht. Als ich das Drehbuch las, schoss mir meine ganze Vergangenheit durch den Kopf. Ich erinnerte mich an so vieles, beispielsweise an die Art und Weise, in der die amerikanische Regierung die Vietnamesen entmenschlichte. Und daran, dass ich schon damals begriff, wie unerlässlich das war, da wir ja sonst gar nicht in der Lage gewesen wären die Waffen in die Hand zu nehmen, um sie damit zu ermorden. Es ging darum, unsere Sinne zu betäuben, so dass wir die Vietnamesen gar nicht als Menschen mit ihren Sorgen und Nöten und ihrem täglichen Überlebenskampf wahrnehmen würden. Mir erschien Tonys Script in gewisser Weise als Protest gegen diese politischen Zielsetzungen, als Aufforderung „nein“ zu sagen, als Versuch einer Annäherung an die tägliche Lebenswirklichkeit der Vietnamesen, an ihr Ringen um Vervollkommnung, an ihre Nöte, im täglichen Kampf ums Über-Leben, oder auch nur die Einsamkeit im Dunkel der Nacht.

Sie haben eine Menge dieser Loner gespielt, die Schwierigkeiten haben mit dem Leben und der Liebe. Weshalb geben diese verzweifelten Männer so gute Kinohelden ab?

Ich werde Ihnen auf diese Weise antworten: Vor kurzem habe ich ein Gedicht gelesen, das eine Frau geschrieben hat, eine asiatische Dichterin aus lang vergangenen Zeiten, ich glaube sie hieß Lalla. Sie stellt vier Fragen, eine davon lautet: Was kann ein menschliches Wesen seinem Gott geben? Und ihre Antwort war: „Die einzige Gabe des Menschen an Gott ist, unablässig an seinem Bewusstsein zu arbeiten.“ Vielleicht ist es das was diese traurigen Helden so attraktiv macht für das Publikum : Ihre Sinne sind geschärft, sie wollen etwas über sich selbst herausfinden. In „Three Seasons“ steht der Junge, der die Leute beobachtet, genau dafür. In diesem Zusammenhang war auch das Theater sehr wichtig für mich, es half mir, mich selbst besser zu verstehen, und das war ja in den Anfängen auch seine Bestimmung: Über die Ereignisse auf der Bühne konnten die Leute, ihre Probleme miteinander teilen. In diesen frühen Zeiten des griechischen Theaters war es auch ganz selbstverständlich. dass die Reichen die Tickets der Armen mitbezahlten: Das ist doch eine wunderbare Art, Verantwortung zu übernehmen.

Im Gegensatz zu beispielsweise Anthony Hopkins, der Nixon und Picasso und Hannibal Lecter spielt, schlagen Ihre Rollen alle einen sehr ähnlichen Grundton an. Das verführt natürlich dazu, die Rollen mit dem Schauspieler gleichzusetzen. Stört Sie das?

Die Frage stellt sich gar nicht. Es interessiert mich einfach nicht, in diese fremden Rollen zu schlüpfen.

Was ist es, das Sie nach so vielen Jahren noch interessiert, was bringt Sie als Schauspieler zum Ticken?

Ich denke es hat wirklich mit dem Gedicht zu tun, von dem ich Ihnen erzählt habe. Das ist keine Koketterie. Ich denke, dass es genau darum geht, um eine geschärfte Sensibilität, darum, sich selbst als menschliches Wesen zu erforschen, und das hört nie auf.

Was ist nötig, um Sie wie bei „Three Seasons“ auch als Produzent eines Films zu gewinnen?

Das Gefühl, eine Geschichte mit anderen Menschen teilen zu wollen, und die Hoffnung, dass sie ihnen genauso viel bedeutet wie mir.

Hat das auch etwas damit zu tun, dass es schwieriger wird, gute Rollen zu finden? Tim Roth beispielsweise hat aus dieser Not heraus begonnen, selbst Regie zu führen.

Nein, ich habe immer wieder die schönsten Rollen bekommen. Andererseits kann das natürlich ein Grund sein. Es geht doch immer darum, seinem Leben einen Sinn zu geben, und da ist die Arbeit ein sehr wichtiger Faktor. Wenn man keine Rollen findet, an denen man als Mensch wachsen kann, dann muss man die Rollen und die Filme eben selbst schaffen, oder die Menschen und das Theater finden, die es einem ermöglichen. Die Tim Roths, und Sean Penns und Quentin Tarantinos – der war ja auch Schauspieler – und die Tony Buis und Jane Campions schaffen sich ihre Bühnen selbst.

Sie haben oft in fremden Ländern gedreht, doch wie fühlten Sie sich jetzt, in einem fast ausschließlich vietnamesischen Team, dessen Sprache Sie nicht verstanden?

Wir waren alle unglaublich inspiriert von dieser Geschichte und empfanden uns als eine große Familie. Es war anregend und wunderbar, mit dieser Gruppe zu arbeiten, da spielt die Sprache keine so große Rolle.

Sie gehen mit Ihren Rollen immer wieder große Risiken ein: Gibt es da auch Dinge die Sie bereuen?

Wenn ich etwas bereuen würde, klänge das, als würde ich meckern oder jammern. Ich hatte sehr viel Glück, jedenfalls zu viel, um jetzt hier vor Ihnen zu sitzen und zu meckern und zu jammern .  .  .


Dieses Interview wurde ursprünglich bei der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht unter http://www.szonnet.de/feuilleton/kino/000512feu_keitel.html, inzwischen aber leider gelöscht. Wenn einer der Copyright-Inhaber etwas dagegen hat, daß ich den Text hier für Harvey Keitel´s Fans weiter zur Verfügung stelle, schreiben Sie mir bitte eine Email und ich lösche die Seite. Chris